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    V. Cui bono? Auftraggeber und Zweck

    Nach der Betrachtung der in den Seitenrändern versteckten Andeutungen mag es überraschen, daß einige Wissenschaftler die These vertreten, Harold werde im Bildverlauf des Teppiches besonders positiv dargestellt. So vermuteten die Historiker BROOKS und WALKER, aber auch ihr Fachkollege David WILSON einen geheimen Subtext, der womöglich, von den normannischen Herren unbemerkt, durch englisches Handwerk Einzug in die bildliche Erzählung gefunden habe. Dies würde bedeuten, daß es eine klare normannische Lesart gibt - aber auch eine englische. Diese müßte dann den Angelsachsen deutlich bevorteilen. Was aber spricht für eine positive Konnotation Harolds?

    "Interessant ist", glaubt WILSON zu erkennen, "daß Harold in den Teppichbildern nicht wirklich verurteilt wird; er erscheint vielmehr als Held und findet einen heldenhaften Tod. Die einzige Kritik an ihm ist jene, die durch den Eidesschwur angedeutet wird."

    Die wohl deutlichste Szene, die für eine solche Lesart spricht, und die noch vor der eigentlichen Entscheidungsschlacht handelt, ist die Rettung eingesunkener Männer Willhelms aus dem Treibsand (Abb.15). Harold wird hier als mutiger Helfer dargestellt, der überlebensgroß mehrere Männer vor dem Tod bewahrt.


    Abb. 15: Harold rettet die Männer aus dem Treibsand.

    Bei dieser Szene könnte es sich um eine Begebenheit handeln, die noch so gut im Gedächtnis der Zeitgenossen war, daß man auf ihre Darstellung nicht verzichten wollte. Doch ist die Geschichte wirklich rein positiv zu verstehen? Am unteren Bildrand finden sich neben zwei stereotypisch gestalteten Fischen (die bisweilen als Sternbildzeichen, pisces, interpretiert werden) mehrere schlangenartige Wesen, die auch als Aale gedeutet werden können. Sie könnten, folgt man den Ausführungen McNULTYs, als Symbol für Schlüpfrigkeit verstanden werden .

    Aber auch andere Szenen tragen nicht dazu bei, die These von einer heldenhaften Darstellung zu untermauern. So begibt sich Harold nach der Beauftragung durch König Edward nicht sofort in die Normandie, sondern richtet zunächst noch ein Bankett aus. Der Schauplatz ist Bosham in Sussex. Hier stand eines der reichsten Kirchengüter Englands im Besitz der Godwins. Harold wird in Szene 2 dargestellt, wie er mit einem Falken auf der Hand, zahlreichen Getreuen und einer Gruppe Jagdhunde nach Bosham reitet. Harold war nicht nur der Schwager des Königs, sondern auch der reichste und mächtigste Earl auf der Insel. Die Symbole seines Reichtums, hier sind es Mantel und Jagdtiere, unterstreichen die Bedeutung dieses Mannes.

    Wird hier Harold also als prächtiger Fürst abgebildet? Der untere Seitenrand zeigt hier Tiere, die die Köpfe zusammenstecken, was als Zeichen für Verschwörung gedeutet werden kann. Ohnehin galt der Godwin-Clan zwar als mächtig, aber auch verräterisch und skrupellos. Nimmt man jetzt noch die bereits besprochenen Fabeln in die Beurteilung mit auf, läßt sich das Bild eines pro-englischen Deutungshorizontes nicht stützen. Selbst das Ende Harolds, der in der Schlacht stirbt, bietet neben der Tatsachendarstellung noch Raum für Interpretationen (Abb.16). Geht man davon aus, daß Harold der Kämpfer sein soll, der von einem Pfeil in Auge getroffen wird (unter der lateinischen Inschrift finden sich zwei sterbende Krieger), könnte dies als alttestamentarische Bestrafung für den Verräter gelesen werden und stände damit im Widerspruch zu einem Heldentod, den man bei einer englischen Lesart des Teppiches erwarten müßte.


    Abb. 16: König Harold wird getötet.

    Wer aber sollte durch den Teppich glorifiziert werden? Es liegt zunächst nahe, daß es vor allem Wilhelm ist, dessen Eroberung durch das Stickwerk für die Nachwelt festgehalten werden soll, in ganz ähnlicher Form wie bei einem chanson de geste. Wilhelm wird stets als Anführer gezeigt, oft mit den Attributen des mächtigen und legitimen Herrschers (vgl. IV.3). Die Heraushebung Wilhelms scheint ohnehin unumgänglich, denn von nichts anderem als seinem Weg zum Thron Englands handelt schließlich das Bildwerk. Doch ist es ein Teppich, der nur der Memoria Wilhelms dienen soll? Wahrscheinlich nicht, dient doch die Erzählung auch der Agenda einer weiteren Schlüsselfigur: Odo von Bayeux, Halbbruder Wilhelms.

    Die meisten Experten folgen der Argumentation von F. R. FOWKE, der bereits 1875 Hinweise aufzeigte, daß Odo als der wahrscheinlichste Auftraggeber des Teppiches anzusprechen ist. Die wichtigsten Indizien dafür sind zum einen die Einbindung einiger von Odos Gefolgsleuten in die Handlung (Vital, Wadard, evtl. Turold), zum anderen die Zuordnung des Teppichs zur Diözese Bayeux. Weiterhin spielt Odo eine wichtige Rolle in der Handlung, was aber mit hoher Wahrscheinlichkeit - durch seine nahe Verwandtschaft mit Wilhelm - auch bei einem anderen Auftraggeber umgesetzt worden wäre. Odo tritt in der Bildfolge viermal auf, darunter auch in Schlüsselszenen.


    Abb. 17: Odo erscheint als Berater und deutet auf die Bauarbeiter - ordnet er den Bau der Flotte an?

    Erstmals tritt er in Szene 35 in Erscheinung: Die Normannen erfahren von Harolds Verrat, woraufhin der Bau einer Invasionsflotte in Auftrag gegeben wird. Obwohl der lateinische Text von einem Befehl von Herzog Wilhelm berichtet, sprechen die Gesten eine andere Sprache. Odo erscheint hier als Berater, er spricht zu Wilhelm und deutet schließlich auf die Bauleute (Abb.17). So erscheint es, als sei er der wahre Auftraggeber für den Flottenbau. Danach erscheint der Bischof in Szene 43, wo er beim Mahl vor der Schlacht den Wein segnet.

    Die vielleicht entscheidende Darstellung folgt darauf in Szene 54/55: Mitten im Schlachtgetümmel werden die Truppen Willhelms durch das Gerücht in Unruhe versetzt, ihr Herzog sei gefallen. Panik macht sich breit, einige Kavalleristen drohen bereits zu fliehen . In diesem Moment erscheint Odo in der Szene: Mit einem Baculum, einer keulenartigen Kommandowaffe, hoch über dem Kopf erhoben, formiert der Bischof die in Unordnung geratenen Truppen und rettet so die Situation (Abb.18).


    Abb. 18: Odo (ganz links) formiert die Truppen, William (2.v.r.) hebt seinen Helm, um sein Gesicht zu zeigen und Gerüchte über seinen Tod zu zerstreuen.

    Bemerkenswert an dieser Geschichte ist, daß die Formierung der Truppen durch Odo durch die Augenzeugenberichte und Chroniken nicht gedeckt wird. William von Poitiers schreibt vielmehr dem Herzog selbst die Abwendung der militärischen Niederlage zu. Auch dieser Umstand stützt die These von Odos Auftraggeberschaft. Und es gibt noch ein weiteres, wichtiges Detail, das Bezug auf den Bischof und seine Diözese nimmt. Als Harold auf die Reliquien schwört und hier seinen Meineid leistet, handelt es sich um die in Bayeux aufbewahrten Heiligtümer. Auch wenn der Verrat im Mittelpunkt steht, wird hier doch die Bedeutung der Reliquien noch einmal betont. Die Ausstellung des Teppiches zum alljährlichen Reliquienfest könnte damit in Zusammenhang stehen.

    Zusammengefaßt kann man annehmen, daß, wenn die These von Odo als Auftraggeber stimmt, der Ruhm des Eroberers auch den Ruhm des Bischofs mehren sollte. Seine in der Bildergeschichte proklamierte entscheidende Rolle beim Bau der Flotte und in der Schlacht würde so den Nachruhm des bekannt ehrgeizigen Mannes sichern. Jedes Jahr erinnerte der Teppich während bestimmter Festtage in der Kathedrale von Bayeux an die Taten der Normannen und somit auch an Bischof Odo. So spricht vieles dafür, daß sich Odo von Bayeux mit dem Kunstwerk selbst ein Denkmal schaffen wollte.




    VI. FAZIT

    Die schiere Größe des Teppichs von Bayeux überdeckt oft die feinen Details, die sich an vielen Stellen in dem Bildwerk verbergen. Das Werk bietet mindestens drei unterschiedliche Rezeptionsebenen. Die Hauptaussage ist die Geschichte der normannischen Eroberung Englands nach dem Tod von Edward dem Bekenner. Diese Geschichte kann auch von Laien gelesen und verstanden werden, selbst wenn sie die lateinischen Inschriften nicht lesen können. Die wichtigen Personen sind deutlich durch Kleidung und Insignien hervorgehoben, Überfahrt und Schlacht drastisch und eingängig dargestellt. Laien werden die Seitenränder deshalb eher als Dekoration wahrnehmen und ihnen keine besondere Bedeutung zuerkennen.

    Betrachter, die des Lateinischen mächtig sind, können die einzelnen Personen auch namentlich benennen und erhalten zusätzliche, aber meist nur deskriptive Informationen zu der figürlichen Darstellung. So wirken die Inschriften wie Szenenanweisungen in einem Drehbuch. Da der Teppich trotz der weltlichen Thematik für eine Ausstellung in einem klerikalen Umfeld gedacht war, liegt die Vermutung nahe, dass die Übersetzung der kurzen Texte und Benennung der Figuren durch einen Priester vorgenommen und an die nicht lesemächtigen Betrachter weitergegeben werden sollte. Auch wurden die Figuren so auch für kommende Generationen entschlüsselbar.

    Die volle Bedeutung der Darstellungen erschließt sich allerdings nur den gebildeten Betrachtern. Feine Gesten oder geschickt eingestreute Anspielungen auf Fabeln oder Geschichten vertiefen das vermittelte Ereignis und geben zusätzliche Informationen. Eine klassische Bildung ist zum Verständnis dieser Bedeutungsebene zwingende Voraussetzung. Vor allem der griechische Philosoph Aesop (ca. 600 v. Chr.) stand mit seinen Fabeln Pate für die zahlreichen Einstreuungen.

    Die einzelnen Figuren werden unterschiedlich bewertet, wobei Harold auf den ersten Blick nicht so schlecht dargestellt wird, wie man es in diesem von den Siegern gemachten Geschichtswerk erwarten könnte. Allerdings wandelt sich seine Darstellung von einem glücklosen, aber mutigen Fürsten (er rettet die Männer aus dem Treibsand) hin zu einem Verräter (der Schwur auf die Reliquien). Besonders negative Verknüpfungen werden vor allem durch die Seitenränder und die subtilen Informationen transportiert. William erscheint dagegen als tadelloser Eroberer, der in Schlüsselmomenten entscheidende Hilfe von seinem Halbbruder Odo bekommt. Durch die wenigen, aber geschickt plazierten Auftritte wird Odo, der wahrscheinlich als Auftraggeber für das Werk anzusehen ist, besonders hervorgehoben und sichert so seinen Nachruhm.




    Autor: Oliver Borgwardt


    Literatur und Quellen


    A) Quellen
    William of Poitiers, Gesta Guillemi, übers. von R.H.C. Davis und M. Chibnall, Oxford 1998.


    B) Literatur
    BERTRAND, Simone: La tapisserie de Bayeux et la manière de vivre au onzième siècle. Paris 1966.
    BERTELSEN, Lise Gjedssø: Der Teppich von Bayeux - eine gestickte Chronik der Wikingerzeit; in: WAMERS, Egon (Hrsg): Die letzten Wikinger. Der Teppich von Bayeux und die Archäologie. Katalog zur Ausstellung, Frankfurt a.M. 2009.
    CHIBNAIL, Marjorie: The Normans. Oxford 2000.
    CLANCHY, M.T: England and its Rulers. 1066-1272, Oxford 1983.
    ENGBERG, Nils: Bewaffnung und Kampfesweise, in: WAMERS, Egon (Hrsg): Die letzten Wikinger. Der Teppich von Bayeux und die Archäologie. Katalog zur Ausstellung, Frankfurt a.M. 2009.
    GOTFREDSEN, Lise: Hand und Gestus auf dem Teppich von Bayeux, in: WAMERS, Egon (Hrsg): Die letzten Wikinger. Der Teppich von Bayeux und die Archäologie. Katalog zur Ausstellung, Frankfurt a.M. 2009.
    McNULTY, John Bard: The Narrative Art of the Bayeux Tapestry Master. New York 1989.
    PLATHE, Sissel: Kleider machen Leute. Tracht und Mode um 1066, in: WAMERS, Egon (Hrsg): Die letzten Wikinger. Der Teppich von Bayeux und die Archäologie. Katalog zur Ausstellung, Frankfurt a.M. 2009.
    REINIKE, Ch: Artikel Farbstoffe; in: Lexikon des Mittelalters. Digitale Ausgabe, Stuttgart 2000.
    von WILKENS, Leonie: Artikel Sticktechnik beim Teppich von Bayeux, in: Lexikon des Mittelalters. Digitale Ausgabe, Stuttgart 2000
    WILSON, David: Der Teppich von Bayeux. London 1985, übs. von Wolfgang Proll, Köln 2 2005.





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