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    III. Darstellung

    Die Bildgeschichte setzt im Jahre 1064, zwei Jahre vor dem Tode Edwards des Bekenners ein. Edward (1005-1066), der 1161 heiliggesprochen wurde, war der letzte angelsächsische König aus der westsächsischen Linie.

    Da seine Ehe kinderlos geblieben war, war die Thronfolge offen. Drei Anwärter gab es auf den Thron: Harold Godwinson, der Earl von Wessex und Edwards Schwager; Norwegens König Harald III, der sich in der Nachfolge Knuts des Großen sah; und der Normannenherzog Wilhelm (der Bastard), dessen Vater der Cousin Edwards gewesen war. Der normannischen Lesart nach hatte Harold Godwinson Verrat an Wilhelm begangen, als er den Thron bestieg:

    "Und dieser wahnsinnige Engländer konnte es nicht ertragen, die Entscheidung einer offenen Wahl abzuwarten, sondern verletzte seinen Eid an jenem tragischen Tag, als der beste aller Männer begraben wurde, während alle Menschen trauerten, und nahm sich den Königsthron durch Zuruf, mit der stillschweigenden Duldung einiger weniger verdorbener Männer" (William von Poitiers, Gesta Guillelmi II, c1.).

    Noch 1064, als er kurz in Wilhelms Gefangenschaft war, soll er seinen Verzicht auf die englische Krone bekundet haben. Dazu kam, daß Edward selbst Wilhelm unter vier Augen als seinen Nachfolger bestimmt haben soll. Der Normannenherzog trachtete nun seinerseits nach der Herrschaft über die Insel. Der Teppich zeigt, wie die Normannen Schiffe bauen, nach England übersetzen und die Schlacht von Hastings gewinnen. Lateinischer Text begleitet die Bilddarstellungen.




    III.1.Die Haupthandlung

    Der Mittelteil des Teppichs wird von der Haupthandlung bestimmt. Von links nach rechts gelesen, wird die Bildgeschichte bis auf wenige Ausnahmen (s.u.) komplett linear und chronologisch in dem 32 cm hohen Hauptfries erzählt. 58 Szenen sind erhalten geblieben, die sich, je nach Standpunkt, grob in drei Abschnitte oder sieben Episoden teilen lassen.

    Eine Dreiteilung würde sich anbieten, wenn man die Geschehnisse bis zum Tode Edwards (Harolds Reise nach Frankreich, Gefangennahme und Begegnung mit Wilhelm, Schwur und Freilassung, etwa Szene 1 bis 24) als Einleitung begreift, den Verrat Haralds durch seine Machtergreifung als entscheidende Wendung (Szene 25-33), und die militärischen Aktionen bis zum Sieg der Normannen als dritten Teil (Szene 34-58). Der amerikanische Anglist und Historiker John Bard McNULTY schlägt eine Aufteilung in sieben Episoden vor:

    Die ersten vier Episoden dienen der Einleitung bis zum thematischen Wendepunkt. Der Fokus der Handlung liegt hier vor allem auf Harald. Zunächst erfolgt die Einführung der Hauptcharaktere und die Überfahrt Harolds in die Normandie wird beschrieben (Szene 1-7). In der zweiten Episode kommt es zu Gefangennahme Harolds und seiner Begegnung mit Wilhelm (8-15). Der dritte Abschnitt zeigt den gemeinsamen Feldzug der späteren Gegner, der schließlich mit dem Vasalleneid Harolds und dessen Schwur auf die Reliquien seinen Höhepunkt findet (16 - 24). Der Wendepunkt in der vierten Episode ist nach der Rückkehr Harolds nach England und dem Tod Edwards die von den Normannen als Verrat gedeutete Thronbesteigung Haralds (25-33).

    Die letzten drei Episoden sind in dieser Einteilung besonders ausführlich und bilden Hauptteil und Schluß der Handlung. Der Fokus liegt nun auf Wilhelm, und die Themen sind ganz von dem entscheidenden Feldzug geprägt. Zunächst, in der fünften Episode, lernen wir Details über den Bau der Invasionsflotte und die Überfahrt nach England kennen (34-39). Hier erfolgt in der sechsten Episode die Einrichtung und Sicherung des Brückenkopfes an der englischen Südküste, die vom langen Warten auf Harald gefolgt wird (40-45). Als letzte und entscheidende Episode und großes thematisches Finale ist die Schlacht von Hastings, der Tod Haralds, und der Sieg Wilhelms dargestellt (46-58).

    Der letzte Teil des Teppichs nach Szene 58 ist nicht erhalten, allerdings geht man davon aus, daß sich hier die Krönung Wilhelms und der Beginn seiner Herrschaft künstlerisch niedergeschlagen hatte.

    An einigen wenigen Stellen wird die Leserichtung der Haupthandlung scheinbar gestört: In Szene 26 bis 28 wird der Tod Edwards und seine Bestattung in der Westminster Abbey gezeigt, allerdings anders als gewohnt: Zunächst kommen die Sargträger auf dem Weg zur Kirche ins Bild, dann sieht man rechts daneben den noch lebenden Edward auf dem Sterbebett liegen (Abb.01). Verschiedene Historiker wie etwa Frank Stenton wurden von dieser Unregelmäßigkeit so verwirrt, daß sie keine Hoffnung hatten, jemand könnte je den Grund für diese Verwirrung beim Künstler herausfinden . Wie McNULTY allerdings darlegte, ist die Bewegungsrichtung der Figuren mit dem Zeitablauf gekoppelt. Zunächst sehen wir also die Kirche, die wenige Tage vor dem Tod Edwards vollendet wird (ein Handwerker installiert gerade die Wetterfahne), dann müssen wir die Leserichtung ändern und beim Tod Edwards beginnen, auf die (naturgemäß) die Beisetzung folgt. Danach läuft die Handlung wieder von links nach rechts.


    Abb. 01: Szene 26 bis 28 scheint der Leserichtung des Teppiches entgegenzustehen.



    III.2.Die Seitenränder

    Neben der Haupthandlung in der Mitte des Teppiches standen die 9 cm hohen Seitenränder lange im Schatten der Betrachtung durch Kunstwissenschaftler und Historiker. Dabei verstecken sich in diesen Bereichen zwischen rein dekorativen Elementen eigenständige, zum Teil in sich abgeschlossene oder mit der Haupthandlung zusammenwirkende Komplexe. Grob kann man diese Elemente in zwei Gruppen aufteilen: Darstellungen von Lebensweisen und realen Gegebenheiten, und Analogien.

    Die Darstellungen historischer Lebensweise scheinen auf den ersten Blick relativ selbsterklärend zu sein. Man sieht Bauern, die ein Feld bestellen, einen Mann, der mit einer Schleuder Vögel jagt, oder Gefallene auf dem Schlachtfeld.

    Die Analogien sind hingegen schon anspruchsvoller zu deuten. Im Jahre 1934 stellte Hélène Chefneux eine umfangreiche Arbeit vor, die sich mit der Herauslösung der dargestellten Fabeln aus der Handlung auf dem Teppich beschäftigte und die darin eingebundenen Geschichten identifizierte. Die in früheren Tagen bisweilen geäußerte These, daß die Ränder unabhängig von der Haupthandlung existierten und keinerlei Bezug zum Mittelteil aufweisen, läßt sich nicht nur anhand der im folgenden noch zu erläuternden Analogien widerlegen, sondern findet schon in einigen Szenen klaren Widerspruch, in der Elemente der Haupthandlung in die Ränder ausgelagert sind. So sehen im Hauptfries von Szene 32/33 die Anhänger Harolds zum Himmel und betrachten den Halleyschen Kometen, der in den oberen Seiterand ausgelagert wurde. Während der Darstellung der Schlacht von Hastings scheinen im unteren Rand abgebildete Bogenschützen den Angriff der normannischen Armee im Mittelteil zu unterstützen. Auch die Gefallenen der Schlacht bei Hastings finden sich am Rand wieder (Abb.02).


    Abb 02: Gefallene Krieger nehmen den unteren Rand ein und verdrängen hier die Fabeln und Zierfiguren, während die Schlacht im Hauptteil tobt (Szene 53 / 54).

    Auch die dargestellten Fabeln sind nicht als Dekoration oder reiner Selbstzweck aufgebracht worden. Vielmehr transportieren sie Botschaften, die Bezug auf die dargestellte Geschichte nehmen. Als Beispiele seien hier folgende Elemente genannt, die sich an der einen oder anderen Stelle auf dem Teppich wiederfinden:

    Der Fuchs, die Krähe und der Käse

    Abb. 03: Am Anfang schwebt der Käse noch zwischen Fuchs und Krähe (Szene 3).

    Abb.04: Der Fuchs schnappt sich den Käse (Szene 16).

    Diese Fabel wird an gleich drei Stellen auf dem Teppich wiederholt. In der ersten Erwähnung sieht man Fuchs und Krähe, die beide erwartungsvoll den vor ihnen in der Luft schwebenden Käse betrachten (Abb.03). Die beiden tierischen Konkurrenten stehen hier synonym für ihre menschlichen Pendants, Harold und Wilhelm. Der Preis, in der Fabel ein Käse, im wahren Leben jedoch England, ist in dieser frühen Darstellung noch von beiden Anwärtern gleich weit entfernt.

    Später, als Harold in der Haupthandlung dem Thron von England entsagt, sieht man wieder Krähe und Fuchs - aber hier hat der Fuchs sich den Käse geschnappt (Abb.04). Wilhelm (der Fuchs) hat seinen Gegner (die Krähe) hier dazu gebracht, ihm den Preis (den Käse) zuzusprechen. Als Harold nach England zurückgekehrt ist, wird die Fabel ein drittes Mal wiederholt. Diesmal hat die Krähe den Käse erbeutet (Abb.05). Harold, so könnte man die Analogie lesen, fühlt sich nun als Sieger des Streites um England.


    Abb.05: Die Krähe hat den Käse zurück (Szene 24).
    Die trächtige Hündin

    Eine weitere Geschichte, die an verschiedenen Stellen wiederholt wird, ist die Fabel von der trächtigen Hündin.


    Abb. 06: Die betrogene Hündin sieht sich mit dem Nachwuchs der "Verräterin" konfrontiert (Szene 51).

    Die Geschichte dreht sich um eine Hündin, die ihre Höhle einer heimatlosen Artgenossin für ihre Niederkunft anbietet. Die freundliche Geste zahlt sich aber nicht aus, denn als die Hündin nach einiger Zeit ihre Höhle wiederhaben will, wird sie von der Fremden und ihrem inzwischen größer gewordenen Nachwuchs bedroht und vertrieben.

    Dieses Thema wird so gedeutet, daß auch ein aufrechter Mensch von falschen Leuten aus seinem angestammten Heim vertrieben werden kann, und man daher kein Mitleid mit Verrätern haben solle . Die Geschichte erscheint beispielsweise unter der Abbildung von Wilhelm, der seine Männer vor der Schlacht an die Rechtmäßigkeit ihres Kampfes erinnert (Abb.06).

    Der Wolfkönig

    In der Fabel um den Wolfkönig (Abb.07) geht es um einen guten und gerechten Löwenkönig, der ohne Erben dasteht und, als er das Land für immer verlassen will, den Tieren in seinem Reich nahelegt, einen neuen König zu wählen. Weil kein zweiter Löwe verfügbar ist, entscheiden sich die Tiere für den Wolf. Dieser soll auf die Gebeine der Heiligen schwören, nie wieder Fleisch zu essen, damit er für die anderen Tiere keine Gefahr darstellt. Im weiteren Verlauf der Fabel findet der Wolf aber dank seiner verräterischen Berater alle möglichen Ausreden und Betrügereien, um seiner Mordlust ungeachtet seines Schwures nachzugehen . Die Deutung dieser Fabel als Parabel auf die Situation in England vor der normannischen Invasion bietet sich an. Der weise Löwenkönig wäre demnach Edward, und Harold der verräterische Wolf. Tatsächlich wird auch Harold an anderer Stelle dargestellt, wie er auf die Gebeine der Heiligen schwört und die Krone im Kreise seiner Berater aufsetzt. McNulty bezeichnet die Wahl dieser Fabel als "one of the happiest strokes of the Master of the Tapestry" .


    Abb 07: Der Affe deutet auf die tierischen Untertanen des Wolfkönigs (Szene 5 / 6).
    Der Wolf und der Kranich

    Die Fabel vom Wolf und dem Kranich (Abb.08) ist eine weitere Episode, die direkt auf Harold anspielt. Während der Angelsachse nach seiner Rückkehr aus der Normandie nach London reitend dargestellt wird, also in scheinbarer Sicherheit, spielt die Fabel auf seine Situation an. In der ursprünglich von dem antiken Autor Aesop erzählten Geschichte zieht der Kranich einem Wolf einen Knochen aus dem Hals, an dem das Raubtier zu ersticken droht. Nach getaner Arbeit verlangt der Vogel einen Lohn für seine Dienste, worauf der Wolf entgegnet, es sei Lohn genug, dem Kopf im Rachen des Wolfes gehabt zu haben und noch am Leben zu sein. Nach diesem Verständnis hätte Harold mit seinem Aufenthalt bei Wilhelm "den Kopf im Rachen des Wolfes" gehabt und sei noch einmal verschont geblieben. Schon das nächste Treffen würde er nicht überleben.


    Abb. 08: Der Kranich zieht dem Wolf einen Knochen aus dem Hals (Szene 5).



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